Quantenmaterialien elegant berechnen

Flore Kunst dehnt, verdreht und knautscht physikalische Gleichungen - aber nur auf Papier und am Computer. Die neue Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts (MPL) in Erlangen nutzt ausgefeilte mathematische Konzepte wie Topologie und solche aus der Quantenmechanik. Damit möchte sie besser vorhersagen, warum Materialien, die in Kontakt mit ihrer Umgebung stehen, unter bestimmten Bedingungen an ihrer Oberfläche Strom leiten, in ihrem Inneren aber nicht - und wie sich diese seltsamen Effekte in neuartigen Mikrochips oder Quantencomputern nutzen lassen.

Flore Kunst, Leiterin der Forschungsgruppe Nicht-hermitesche topologischen Phänomene

Foto: MPL

Was ist der Unterschied zwischen einem Kaffeebecher mit einem Henkel und einem Donut? Für Flore Kunst gibt es keinen. "Man kann das eine Objekt einfach in das andere umformen, ohne Löcher zu schließen oder zu öffnen, zu reißen oder zu kleben", erklärt die in den Niederlanden geborene theoretische Physikerin, die am 1. November 2021 am MPL in Erlangen ihre neue Forschungsgruppe "Nicht-Hermitesche topologische Phänomene" gegründet hat. Sie wendet die mathematische Disziplin der Topologie an, um kondensierte Materie zu beschreiben und besser zu verstehen, wie sich die Eigenschaften ändern, wenn sie dissipative Effekte berücksichtigt, bei denen Energie umgewandelt wird.

"Die Bedeutung dieses mathematischen Werkzeugkastens in der Physik wurde in den 1980er Jahren erkannt und markierte einen wichtigen Paradigmenwechsel in der Behandlung von Quantensystemen", sagt Flore Kunst, die zuvor als Postdoc am Max-Planck-Harvard-Forschungszentrum für Quantenoptik am MPI für Quantenoptik in München tätig war. Dieses Forschungsgebiet wurde bis heute mit nicht weniger als drei Nobelpreisen für Physik sowohl für Theoretiker als auch für Experimentatoren ausgezeichnet. Ein Beispiel für die Anwendung dieser neuen Methoden sind topologische Isolatoren. Sie können Strom an ihren Außenseiten leiten, während sie sich in ihrem Inneren wie ein Isolator verhalten. "Was hat das mit der Geschichte von dem Becher und dem Donut zu tun?", fragt die Wissenschaftlerin rhetorisch. Die Antwort lautet: Es ist möglich, die abstrakte Mathematik, die diesen Isolatoren zugrunde liegt, auf sehr drastische Weise zu manipulieren, ohne die Materialeigenschaften zu verändern, "sie sind extrem robust gegenüber Störungen", erläutert Kunst.

Traditionell beschreiben Physiker ein System gerne unter der Annahme, dass es weder Energie noch Teilchen mit seiner Umgebung austauscht - es ist ähnlich isoliert wie der biblische Einsiedler in seiner Höhle. "Dieser Trick vereinfacht die Berechnungen in der Regel sehr", sagt die neue Gruppenleiterin. Doch in der realen Welt – und natürlich in Laborexperimenten - steht ein Material immer in Kontakt mit seiner Umgebung. Eine Möglichkeit, dies in der Theorie zu beschreiben, besteht darin, das Modell als nicht-hermitesch zu betrachten und den Energieverlust an die Umgebung zu berücksichtigen. Der Begriff "hermitesch" geht auf den französischen Mathematiker Charles Hermite zurück. Kunst berücksichtigt dies in ihren Modellen, und ihre Gruppe beschäftigt sich folglich mit nicht-hermiteschen topologischen Phänomenen. Darüber hinaus sucht sie auch nach Anwendungen im Quantencomputing oder in optoelektronischen Geräten.

Als mehrfach ausgezeichnete Theoretikerin benötigt sie drei Dinge zum Arbeiten: einen Computer, einen Stift und Papier. Aber auch der Austausch mit Kollegen und Gruppenmitgliedern bestimmt ihren Arbeitstag. "Ich liebe das Rechnen", sagt sie. Das hat sie schon in jungen Jahren genossen, und in der Schule war Mathematik immer eines ihrer Lieblingsfächer. Doch sie studierte das Fach nicht, denn "Schulmathematik ist ganz anders als die Mathematik, die an der Universität gelehrt wird". Am meisten Spaß macht ihr der rechnerische Teil der Mathematik, der in der theoretischen Physik viel stärker ausgeprägt ist. "Was mich an der theoretischen Physik über die Mathematik hinaus reizt, und insbesondere an der Physik kondensierter Materie, ist ihre Eleganz", erklärt Kunst. Es erstaunt sie immer wieder, dass Gleichungen, die sie aufgeschrieben hat, tatsächlich etwas über die reale Welt vorhersagen. "Man kann sehr komplizierte Berechnungen durchführen, die tatsächlich das Ergebnis eines Experiments vorhersagen", erzählt Flore Kunst. "So können wir ein tiefes Verständnis dafür entwickeln, wie die Welt oder sogar das Universum funktioniert - nur indem wir Gleichungen aufstellen."

 

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