Mit maschinellem Lernen fundamentale Strukturen der Quantenmechanik verstehen

Quantensysteme können Korrelationen aufweisen, die deutlich stärker sind als solche in klassischen Systemen. Diese ›spukhafte Fernwirkung‹ wird in der modernen Physik als ›Nicht-Lokalität‹ bezeichnet. Wissenschaftler der Theorie-Abteilung am Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts (MPL) haben jüngst einen neuartigen Algorithmus veröffentlicht. Dieser ermittelt für beliebige Zustände eines physikalischen Systems, ob es Nicht-Lokalität aufweist oder ob klassische lokale Korrelationen vorliegen. Nicht-Lokalität bildet eine notwendige Voraussetzung für eine Vielzahl realer Anwendungen, wie beispielsweise die Quanten-Kryptographie, und dient dem besseren Verständnis von Quanten-Vielteilchensystemen.

Bald nach der Entdeckung der Quantenmechanik erkannten Wissenschaftler*innen, dass sie Korrelationen zwischen weit entfernten Teilchen vorhersagt, die stärker sind als klassisch möglich. Dieses Phänomen wurde von Einstein als ›spukhafte Fernwirkung‹ bezeichnet und ist in der heutigen Quantenphysik unter dem Begriff ›Nicht-Lokalität‹ bekannt. 2022 wurde die experimentelle Bestätigung mit dem Nobelpreis gewürdigt. Für eine Vielzahl heutiger und zukünftiger Anwendungen sind nicht-lokale Zustände essentiell, wie beispielsweise für nachweisbar sichere Kryptografie.

Physikalische Systeme können abhängig von ihren Parametern von klassischen lokalen Zuständen in die für die Quantenmechanik bedeutenden nicht-lokalen Zustände übergehen. Wo genau die entsprechende Schwelle liegt, die den Übergang markiert, konnten Wissenschaftler*innen bisher nur wage bestimmen. 

Ein Team von Wissenschaftlern am MPL hat nun einen Algorithmus entwickelt, der es ermöglicht, diese Grenze in beliebigen physikalischen Zuständen konkret quantitativ zu bestimmen.

Lokale und nicht-lokale Zustände eines physikalischen Systems abgrenzen

Von einem lokalen Zustand spricht man, wenn die Ergebnisse ›aller möglichen‹ Experimente von einem Modell mit bestimmten Eigenschaften erklärt werden können (sogenannte ›Local Hidden-Variable Models‹). Ist dies nicht möglich, ist der Zustand nicht-lokal. Die Schwierigkeit der Nachweisführung lokale von nicht-lokalen Zuständen abzugrenzen besteht in der Unendlichkeit der Möglichkeiten solcher Modelle. Insbesondere gab es bisher keinen systematischen Weg ›alle möglichen‹ Modelle zu analysieren.

MPL-Wissenschaftler begegnen diesem Problem mit maschinellem Lernen. Ihr entwickelter Algorithmus konstruiert für jeden beliebigen physikalischen Zustand automatisch ein intrinsisch lokales Modell, dessen experimentelle Vorhersagen so nah wie möglich an den quantenmechanischen Vorhersagen liegen.

Konkret füttern sie dazu ihren Algorithmus mit einem beliebigen Quanten-Zustand. So ein Zustand kann beispielsweise Spinkonfigurationen oder den Polarisationszustand von Photonen beschreiben. Die Forscher haben nun eine Methode gefunden, alle ›Local Hidden-Variable Models‹ systematisch zu untersuchen. Unter Anwendung einer spezifischen Methode des Maschinellen Lernens, dem Stochastic Gradient Descent, sind sie in der Lage automatisch das bestmögliche Modell zu konstruieren: Durch die Optimierung soll das parametrisierte Modell die gleichen Vorhersagen für alle Experimente treffen, wie die Quantenmechanik. Im Erfolgsfall wird so konstruktiv numerisch gezeigt, dass der Zustand lokal ist. Gelingt es nicht, können die Wissenschaftler den Raum der berücksichtigten Modelle schrittweise vergrößern, bis asymptotisch alle möglichen Modelle berücksichtigt werden. Gelingt es immer noch nicht, ist der Zustand mit großer Wahrscheinlichkeit nicht-lokal. 

„Insgesamt können wir mit unserem Algorithmus sehr effizient für beliebige Zustände herausfinden, ob diese lokal oder nicht-lokal sind. Im lokalen Fall haben wir sogar explizit das lokale Modell. Im nicht-lokalen Fall haben wir ein lokales Modell, welches den Zustand in gewissem Sinne bestmöglich approximiert“, erläutert Nick von Selzam, Erstautor der Arbeit. Florian Marquardt, Direktor am MPL und Leiter der Theorieabteilung, ergänzt: „Mit unserer Methode gewinnen wir neue quantitative Erkenntnisse über die Grenzen zwischen Lokalität und Nicht-Lokalität für eine Vielzahl von Systemen, die von bekannten hochsymmetrischen Zuständen bis zu Grundzuständen komplexer Vielteilchensysteme reichen. Solche Ergebnisse können beispielsweise als Rauschrobustheit nicht-lokaler Korrelationen interpretiert werden.“

Vielversprechende zukünftige Anwendungen

Die grundlegende Arbeit von Marquardts Team, welche in dem Journal ›PRX Quantum‹ veröffentlicht wurde, erlaubt den Algorithmus auf verschiedene Anwendungen auszuweiten und auf andere wissenschaftliche Kontexte zu übertragen. Insbesondere bei Quantenverschränkungen von mehr als zwei Teilchen sehen die Autoren ein großes Anwendungspotential.

Vollständige Bildbeschreibung

Simplifizierte Darstellung eines hoch-dimensionalen Raums klassischer Zustände (sogenannte “Hidden Variables”). Jeder Punkt korrespondiert zu einem Tupel solcher Variablen — eine pro Teilchen (hier: zwei Teilchen). Die ganze Punktwolke entspricht der numerischen Repräsentation einer Wahrscheinlichkeitsverteilung über alle möglichen solcher Tupel. Bereiche höherer Punktedichte korrespondieren zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für die entsprechenden Konfigurationen. Die möglichen Punktewolken kodieren somit die möglichen lokalen Korrelationen. Initial starten wir mit einer zufälligen Wolke (in rot). Der Farbverlauf bildet den Optimierungsprozess ab: Der Stochastic Gradient Descent Algorithmus verformt die Wolke schrittweise, so dass die kodierten Korrelationen den quantenmechanisch vorhergesagten stetig näher kommen. Die Optimierung ist abgeschlossen, wenn keine Verbesserung mehr möglich ist (finale Wolke in gelb).


Originale Publikation in PRX Quantum:
N. von Selzam, F. Marquardt, “Discovering Local Hidden-Variable Models for Arbitrary Multipartite Entangled States and Arbitrary Measurements”, PRX Quantum, 2025.
DOI: 10.1103/PRXQuantum.6.020317

Wissenschaftlicher Kontakt:

Nick von Selzam
Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts, Erlangen
Abteilung ›Theorie‹
www.mpl.mpg.de / nick.von-selzam@mpl.mpg.de

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